Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten – Interview mit Thomas Oppermann in der Guten Arbeit

21. Dezember 2015

In Krisensituationen zeigt sich die Berechtigung der Großen Koalition, sagt SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Im Interview zieht er eine Bilanz der ersten zwei Koalitionsjahre.

 

Die Große Koalition ist jetzt seit zwei Jahren im Amt. Wie fällt Ihre Halbzeitbilanz aus?

Diese Große Koalition hat in den ersten zwei Jahren unser Land sehr gut regiert. Wir haben aus dem Koalitionsvertrag eine Menge wichtiger Projekte in einem beeindruckeden Tempo umgesetzt. Das ist vor allem das Verdienst der sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister und einer professionell agierenden SPD-Fraktion. Vor allem zeigen wir, dass wir in Krisensituationen – wie wir sie jetzt bei der Bewältigung der großen Zahl der Flüchtlinge haben – auch schwierige Entscheidungen verantwortungsvoll treffen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, welches Bild eine schwarzgelbe Koalition in einer ähnlichen Situation hier abgegeben hätte. In solchen Zeiten zeigt sich die innere Berechtigung der Großen Koalition.

Was würden Sie als besondere Erfolge der SPD-Fraktion hervorheben?

Die Einführung des Mindestlohns ist ein Meilenstein, den wir durchgesetzt haben. Mit der Tarifeinheit und dem Grundsatz ‚Ein Betrieb, ein Tarifvertrag‘ stärken wir die Sozialpartnerschaft. Dass wir für einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden gesorgt haben, verbessert das Leben dieser und kommender Generationen: Erstmals seit 1969 gibt der Bund nicht mehr aus, als er einnimmt. Und trotzdem haben wir die Kommunen finanziell kräftig entlastet. Wir haben hier geborenen und aufgewachsenen Kindern die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht. Mit der Frauen-Quote, der Einführung der Mietpreisbremse sowie des Bestellerprinzips bei den Maklergebühren hat die SPD-Fraktion das Leben der Menschen konkret verbessert. Und wir stellen uns den Gefahren des Terrorismus und haben darauf mit besonnenen Maßnahmen reagiert.

Was hätte aus Ihrer Sicht besser laufen können?

Die SPD hat seit über einem Jahr darauf gedrängt, als bereits absehbar war, dass die Flüchtlingszahlen steigen werden, die Länder und Kommunen besser auszustatten, den Wohnungsbau anzukurbeln und die nötige Infrastruktur zur Aufnahme der Flüchtlinge zu schaffen, vor allem schnellere Verfahren. Leider haben wir uns gegen die Union erst durchsetzen können, als die Zahl der Flüchtlinge rasant nach oben ging. Jetzt laufen wir der Entwicklung ein Stück hinterher und müssen jetzt schnell Ordnung schaffen. Die zentralen sozialdemokratischen Vorhaben im Koalitionsvertrag sind abgearbeitet. Was bleibt für die nächsten zwei Jahre? Wir werden noch viele wichtige Vorhaben umsetzen. Um nur drei zu nennen: Wir wollen für gleiche Bezahlung von Frauen und Männern sorgen, denn Frauen verdienen durchschnittlich 22 Prozent weniger als Männer. Wir legen einen individuellen Auskunftsanspruch fest und wollen Unternehmen verpflichten, zur Entgeltgleichheit zu berichten. Wir werden Mieter weiter stärken, indem wir den Mietspiegel überarbeiten und die Modernisierungsumlage begrenzen. Und wir schaffen weiter Ordnung auf dem Arbeitsmarkt: Es kann nicht sein, dass Lohndumping durch Missbrauch von Werkverträgen in diesem Land zum Teil ganz legal ist. Wenn ganze Belegschaften aus lauter individuellen Werkverträgen bestehen, dann geht das am Sinn und Zweck dieses Instrumentes vorbei. Bei der Leiharbeit wollen wir eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten und gleichen Lohn nach neun Monaten einführen. Andrea Nahles hat hier sehr gute Vorschläge gemacht, mit denen wir den Missbrauch zulasten von Arbeitnehmern stoppen werden.

Mit ihrem Projekt Zukunft sucht die SPD-Fraktion nach Antworten auf die zentralen Zukunftsfragen. Was bedeutet das ganz konkret?

In den kommenden Jahren steht Deutschland vor neuen Herausforderungen. Die Digitalisierung, die Globalisierung, der demografische Wandel oder auch die Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit verändern die Art und Weise, wie wir künftig leben, lernen und arbeiten. Deshalb haben wir mit sechs Projektgruppen einen Dialog gestartet, mit dem wir Antworten auf zentrale Zukunftsfragen erarbeiten werden. In der digitalen Arbeitswelt sind wir beispielsweise ständig erreichbar und flexibel einsetzbar: Wie können wir unter diesen Umständen dafür sorgen, dass Frauen und Männer, Selbständige und abhängig Beschäftigte ihre individuellen Vorstellungen von Familie, Beruf und Freizeit besser verwirklichen können und selbstbestimmt über ihre Zeit bestimmen können? Die Ergebnisse unseres Dialogs werden in unsere parlamentarische Arbeit für diese und die kommende Legislaturperiode einfließen.

Sie fragen mit dem Projekt nach einer „Neuen Gerechtigkeit“. Was ist falsch an der alten?

Die Welt verändert sich, also stellen sich auch andere Gerechtigkeitsfragen. Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für Fortschritt, denn der wirtschaftliche Erfolg kommt nicht von selbst. In den 1970er Jahren haben Sozialdemokraten die Gesellschaft durchlässiger gemacht. Viele Arbeiterkinder sind Akademiker geworden, deren Kinder nunmehr in der Regel sehr gute Bildungschancen haben. Die Kinder aus ärmeren Schichten dagegen stehen vor riesigen Hürden. Wenn Armut nicht „vererbt“ werden soll, müssen wir Chancen für alle organisieren.

Die Große Koalition hat lange geräuschlos gearbeitet und den Koalitionsvertrag umgesetzt. Mit der Debatte um die Flüchtlingspolitik ist erstmals ein großes Streitthema aufgekommen. Wie beurteilen Sie den derzeitigen Zustand der Koalition?

Die SPD in Bund und Ländern ist der Stabilitätsanker der Koalition. Wir müssen eine der schwersten Herausforderungen, vor der unser Land je stand, bewältigen. Ich glaube, wir machen im Moment viel richtig. Wir unterstützen die Menschen, die sich mit großer Hilfsbereitschaft um die Flüchtlinge kümmern. Aber wir nehmen auch die Sorgen derjenigen ernst, die sich fragen, was das für sie bedeutet. Jetzt geht es darum, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Das ist eine Kernkompetenz von uns Sozialdemokraten. Und es geht darum, die Flüchtlinge, die dauerhaft bei uns bleiben, zu integrieren. Da darf Parteipolitik nicht im Vordergrund stehen.

Vor allem innerhalb der Union brodelt es. Beim Thema Flüchtlingspolitik gibt es zum Teil unvereinbare Meinungen. Wo steht die SPDFraktion in diesem Konflikt?

Der Streit zwischen CDU und CSU ist komplett überflüssig. Wir haben wirklich Wichtigeres zu tun. Wir müssen eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Das geht nur mit einer offenen und ernsthaften Diskussion. Panikmache ist dabei ebenso fehl am Platz wie die Tabuisierung von Ängsten. Das ist die wahre Bewährungsprobe für unser demokratisches System. Wir kümmern uns um die Probleme, damit unser Land stark bleiben kann. Wir verschließen uns dabei keinen pragmatischen Lösungen, aber wir machen keine Symbolpolitik mit, die an der Lage nicht viel ändert. Neben den innenpolitischen Maßnahmen müssen wir uns international auf drei Dinge konzentrieren, die uns helfen können, von den hohen Zahlen runterzukommen: Wir versuchen den syrischen Bürgerkrieg durch die Verhandlungen in Wien zu befrieden, wir helfen mit, die Lage von Flüchtlingen in den Krisenregionen zu verbessern und wir wollen die EU-Außengrenzen mit Hilfe der Türkei sichern.

Sie sagen mit Blick auf die vielen Flüchtlinge, dass wir vor allem die Chancen sehen müssen, die uns die Zuwanderung bietet. Welche Chancen sind das?

Wir haben heute so viele offene Stellen wie noch nie seit der Deutschen Einheit und werden in den nächsten 15 Jahren sechs Millionen Fachkräfte ersetzen müssen, die in den Ruhestand gehen. Die Hälfte der Flüchtlinge ist jünger als 25 Jahre, in der deutschen Bevölkerung ist es bloß ein Viertel. Die Flüchtlinge können uns helfen, den Fachkräftemangel von morgen und übermorgen zu decken. Flüchtlinge sind meist hochmotiviert. Sie wollen sich auch oft selbständig machen und sind bereit, dabei auch Risiken einzugehen. Auch das aktuelle Herbstgutachten der Wirtschaftsweisen prognostiziert, dass Deutschland von den Flüchtlingen wirtschaftlich profitieren wird.

Was muss die Politik dafür tun, um diese Chancen zu nutzen und die Zuwanderung zu einer Erfolgsgeschichte zu machen?

Wir müssen bei der momentanen Zuwanderung im Auge behalten, wie wir die Menschen integrieren können und wie gut unsere Integrationsmaßnahmen sind. Wenn wir die Integration nicht schaffen, kriegen wir große Probleme. Deshalb hat die SPD-Fraktion ein kluges Integrationskonzept. Die Integration ist eine innenpolitische Herausforderung für ein ganzes Jahrzehnt. Sprache, Kita, Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Wohnung, Werte und Regeln: Das ist das ABC der Integration. Und dieses ABC muss jetzt auf allen Stufen buchstabiert werden. Alle Fehler, die wir in den 60er und 70er Jahren gemacht haben, müssen wir jetzt vermeiden. Da müssen wir klotzen statt kleckern.

Das Thema Flüchtlinge bringt auch den Mindestlohn wieder in die Diskussion. Die Wirtschaftsweisen und Teile der Union fordern Ausnahmen für Flüchtlinge. Was sagen Sie dazu?

Wir sollten die Menschen nicht täglich durch neue unausgegorene Vorschläge verunsichern. Wenn wir Ausnahmen vom Mindestlohn bei Flüchtlingen erlauben, dann öffnen wir dem Lohndumping Tür und Tor. Es darf keine Menschen erster und zweiter Klasse geben. Das lehne ich kategorisch ab. Viele Menschen haben lange auf den Mindestlohn von 8,50 Euro gewartet. Wenn jetzt Flüchtlinge die gleiche Arbeit für 6,50 Euro machen, bekommen wir genau die Spaltung der Gesellschaft, die wir unbedingt verhindern müssen.

Eine Bilanzbroschüre der SPD-Fraktion über die ersten zwei Koalitionsjahre ist hier herunterladbar

 

Quelle: Interview mit Thomas Oppermann in der Guten Arbeit: Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten (08.12.2015), Internetauftritt der SPD-Bundestagfraktion, abgerufen von http://www.spdfraktion.de/presse/interviews/wir-m%C3%BCssen-die-gesellschaft-zusammenhalten am 15.12.2015.