Die Welt ist in Unordnung. Sie ist weder bipolar noch multipolar, vielmehr befindet sie sich in einer Phase der Transformation, mit ungewissem Ausgang. Manche Gewissheit der vergangenen Jahrzehnte ist überkommen, sowohl im transatlantischen Verhältnis, als auch in unserem Verhältnis zu Russland. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Einmischung in die Ost-Ukraine hat Russland die mit der Helsinki-Schlussakte und der Charta von Paris besiegelte europäische Sicherheitsordnung massiv verletzt und in Frage gestellt. Damit werden friedensstiftende Ergebnisse sozialdemokratischer Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr offen in Frage gestellt.
Gerade weil unsere Beziehungen mit Russland derzeit belastet sind, brauchen wir den Dialog mit Russland umso mehr und umso intensiver. Keine der großen internationalen Probleme, mit denen wir uns konfrontiert sehen, lassen sich lösen, wenn nicht im Dialog mit Russland. Nur im Dialog kann Verständnis und Vertrauen wieder wachsen. Dabei bedeutet Verständnis nicht, dass wir zugleich einverstanden sind. Im Gegenteil. Manchmal ist es ein Forstschritt sich zu einigen, dass man sich nicht einig ist. Doch nur im Dialog, auch im kontroversen, können wir klar machen, an welchen Stellen wir Kooperation mit Russland wollen. Mehr Zusammenarbeit wollen wir beispielsweise in der Ukraine, wo wir Fortschritte in der Umsetzung der Minsker Vereinbarung nur dann erreichen können, wenn Russland seinen Einfluss auf die Separatisten verstärkt geltend macht. Mehr Zusammenarbeit wollen wir auch bei Fragen der Abrüstung und der Nichtverbreitung.
Es ist dieser bewährte doppelte Ansatz der deutschen Russland-Politik. Ein klares Bekenntnis zu unseren Werten und Stärkung unserer Resilienz einerseits, Dialog und die Suche nach Feldern und Chancen der Kooperation andererseits. Ganz besonders wichtig ist mir dabei die Förderung zivilgesellschaftlicher Kontakte, die Stärkung von Dialogkanälen auch jenseits der Politik. Denn gerade in diesen politisch angespannten Zeiten ist es eminent wichtig, dass sich die deutsche und die russische Gesellschaft nicht voneinander entfremden. Die in den vergangenen Jahrzehnten entstandenen Verbindungen und Freundschaften zwischen unseren Gesellschaften müssen wir erhalten und ausbauen, gerade auch für die junge Generation – sei es durch Jugendaustausch, Studierendenprogramme oder deutsch-russische Themenjahre. Russland gehört für mich eindeutig zu Europa.
Nordrhein-Westfalen war in diesem Jahr der offizielle Partner der Deutschen Woche in St. Petersburg. Die Deutsche Woche hat sich über die Jahre zu einem der wichtigsten Ereignisse des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens der Stadt St. Petersburg entwickelt und leistet einen wichtigen Beitrag zur Stärkung und Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Wir wollen gezielt die Bereiche fördern, die Kooperationen ermöglichen. Dazu dienen auch die deutsch-russischen Themenjahre. Letztes Jahr haben wir die kommunalen und regionalen Partnerschaften in den Mittelpunkt gestellt. Diese bringen Menschen auch jenseits der großen Metropolen zusammen. Ob Umweltschutz, Abfallwirtschaft oder Inklusion von behinderten Menschen – Vertreter aus großen und kleinen Kommunen diskutierten gemeinsam die Lösungen für die Probleme unserer Gegenwart. Der Großteil derjenigen, die diese Partnerschaften pflegen, macht dies zwar bereits seit vielen Jahren mit großem Engagement – es fehlt aber oft der Nachwuchs. Hier gilt es auch von Seiten der Politik anzusetzen, indem wir für den Wert dieser länderübergreifenden Partnerschaften und für das Engagement im Rahmen von solchen Partnerschaften aktiv werben. Vom 25.-27. Juni wird in Aachen und Düren die deutsch-russische Städtepartnerkonferenz an dieses wichtige Jahr der Begegnung anknüpfen können. Im Anschluss freue ich mich auf die Internationalen Hansetage in Pskow, nicht nur, weil im nächsten Jahr meine Heimatstadt Brilon im Sauerland Gastgeber dieses Ereignisses sein wird. Sondern vor allem, weil sie daran erinnern, dass uns eine gemeinsame Geschichte und Kultur über den Ostseeraum hinaus verbindet und gerade der Handel Europa schon vor Jahrhunderten zusammengebracht hat.
Das aktuelle deutsch-russische Jahr der Hochschulkooperationen und Wissenschaft bietet zudem eine gute Möglichkeit zu sehen, wie wir nationale Spielräume bei der Visa- und Stipendienvergabe noch stärker nutzen können. Am 18.-19. Juli findet die nächste Sitzung des 18. Petersburger Dialogs in Bonn statt. Gemeinsam mit meinem Kollegen und Ko-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft im Petersburger Dialog, Michail Fedotow (Vorsitzender des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten) werde ich Erleichterungen bei der Visapflicht für die Zivilgesellschaft noch einmal auf die Tagesordnung setzen. Die Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft erarbeitet hierfür gerade konkrete Vorschläge. Denn es geht darum, unsere Gesellschaften zusammenzubringen. Mir ist wichtig, dass gerade die jüngere Generation sich wieder mehr in den Beziehungen zu Osteuropa engagiert. Die Brücken, die zwischen Deutschland und Russland bestehen, müssen weiter tragfähig bleiben.
Es ist erfreulich, dass es durch die Fördermittel des Auswärtigen Amtes neben vielen deutsch-russischen Initiativen auch trilaterale und regionale Projekte gibt. Erst im vergangenen Jahr konnte ich beeindruckende Kunstprojekte von ukrainischen, russischen und deutschen Jugendlichen in Kiew besuchen. Wenn wir die deutsch-russischen Beziehungen entwickeln, dürfen wir unsere gemeinsamen Nachbarn nicht übersehen. Denn Ostpolitik muss heute europäisch gedacht werden. Das fördert auch im zivilgesellschaftlichen Bereich den multilateralen Ansatz, für den sich die deutsche Außenpolitik mit vielen Partnern so deutlich einsetzt. Die sich in diesem Jahr zum zehnten Mal jährende Östliche Partnerschaft der Europäischen Union mit Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine wird auch in den kommenden Dekaden ein wegweisendes Kooperations- und Annäherungsprojekt sein, das auch Russland in Zukunft stärker berücksichtigt. Die Projekte und Förderungen des Auswärtigen Amtes tun dies bereits heute. Die Östliche Partnerschaft hat viele Erfolge erzielt. Alle teilnehmenden Staaten haben wie Russland schwierige Zeiten fundamentaler Veränderungen hinter sich. Die Erfahrungen dabei sind sehr unterschiedlich, auch die Beziehungen zu Russland. Aber für alle gilt: Die Prinzipien der OSZE, das heißt die Normen aus der KSZE- Schlussakte und der Charta von Paris, bleiben auch heute gültig. Nur kooperative Sicherheit, die neben der Sicherheit auch die Dimensionen der Wirtschaft, der Umwelt und der Menschenrechte einbezieht, kann Grundlagen für Vertrauen schaffen.
Wir müssen im Kleinen anfangen und dürfen uns nicht von der Größe der Herausforderungen lähmen lassen. Unsere Politik gegenüber Russland braucht eine Zukunftsperspektive auf Basis belastbarer Errungenschaften der Vergangenheit. Das beinhaltet die Rückkehr zu einer regelbasierten europäischen Friedensordnung, den Prinzipien der OSZE mit der Garantie der territorialen Unversehrtheit aller Staaten und ein Bekenntnis zur Mitgliedschaft im Europarat. Hier hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen und Monaten Brücken gebaut, damit Russland weiter Mitglied im Europarat bleibt und russische Bürgerinnen und Bürger auch zukünftig der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) offen bleibt. Dazu zähle ich aber auch die Idee eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Wales bis Wladiwostok, von Porto bis St. Petersburg und von Köln bis Kamtschatka. Kurzum: Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion. In früheren Jahren war es der Hansebund, welcher den Ostseeraum verband und bei den kommenden Hansetagen in Pskow eine Neuauflage erlebt. Austausch und Kommunikation sind hier die Stichwörter. Und das heißt im 21. Jahrhundert, dass sich für den Dialog immense Chancen bieten, die unsere Gesellschaften nutzen können. Und das geschieht ja auch schon jeden Tag, in den vielen persönlichen Begegnungen und millionenfach im Internet. Bessere Voraussetzungen für einen intensiven Dialog zwischen den Menschen, Unternehmen und Gesellschaften unserer beiden Länder könnte es somit gar nicht geben, gerade auch unabhängig von der Politik. Die Politik muss dafür sorgen, dass dieser Dialog möglich bleibt, Abschottung verhindern und stattdessen bestehende Hindernisse aus dem Weg räumen. So werden Schlussakten lebendig.