Die Sozialdemokratie in Zeiten des Umbruchs: Herausforderungen der Zeitenwende
Unsere Gesellschaft steht in den letzten Jahren vor gewaltigen Herausforderungen und Umbrüchen. Die geopolitischen Kräfteverhältnisse ordnen sich neu. Ein „geoökonomischer Tsunami“ wirbelt die wirtschaftlichen Verhältnisse vergangener Jahrzehnte durcheinander, wie es Marc Saxer im IPG-Journal treffend auf den Punkt brachte. Die massiven klimatischen Veränderungen kommen potenziert hinzu und sind auch in ihren sicherheitspolitischen Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Dies zeigt schon ein Blick in das herausragende Buch „Die Welt aus den Angeln“ von Philipp Blom. Gar nicht zu sprechen von dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem stärker werdenden Einzug von Extremistinnen und Extremisten von rechts in Bundes- und Landtage, welche die Demokratie immer offener in Frage stellen. Die Welt, wie wir sie kennen, befindet sich im Umbruch.
Das geht an einer Partei wie der SPD nicht spurlos vorbei. Sie muss hierauf Antworten geben. Antworten für die Gestaltung der Zukunft mit einem klaren Kompass und konkreten Zielen. Dabei wird nicht die reine Lehre auf Parteitagen das entscheidende Maß sein können, sondern vielmehr eine pragmatische und bodenständige Sozialdemokratie, die eine Politik des Machbaren verfolgt, Sicherheit im umfassenden Sinne in den Fokus nimmt und den Alltag der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Sei es auf der Bundesebene, in den Bundesländern oder auf der kommunalen Ebene.
Und dies ist immer mehr erforderlich. Im Koalitionsvertrag von 2013 stand nichts über die Handhabung der hohen Flüchtlingszahlen und deren Bewältigung im Jahr 2015. Im Koalitionsvertrag von 2018 stand nichts über den Umgang mit der Corona-Krise. Auch der Koalitionsvertrag von 2021 gibt nicht vor, wie wir mit Putins völkerrechtswidrigem Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 umgehen wollen.
Die Sozialdemokratie musste neue Antworten geben und hat sich ihrer Regierungsverantwortung gestellt. Denn die SPD versteht sich in ihrer großen Breite als eine Partei der Mitte. Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen sind Mitglied der SPD und entsprechend divers und kritisch sind die Diskussionen und der Austausch. Wir verbinden Menschen dort, wo andere längst aufgehört haben, zu diskutieren, und finden Kompromisse, die andere nie für möglich gehalten hätten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die außenpolitische Grundsatzrede von Lars Klingbeil bei der Friedrich-Ebert-Stiftung zur notwendigen und richtigen Neuausrichtung unserer Russland-Politik.
Unsere Welt immer komplexer. Wir alle müssen politisch zunehmend auf komplexe Themen reagieren und Antworten zu Themen finden, auf die es keine fertigen Antworten gibt. Die Ansichten in der Gesellschaft gehen immer weiter auseinander, werden kontroverser und mithin sogar unvereinbar. Sei es die Corona-Pandemie, während der niemand sicher wissen konnte, was sich am Ende als richtig oder falsch herausstellt, oder die Folgen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine.
Das ist für eine Partei mit Regierungsverantwortung eine besondere Herausforderung. Denn durch die großen politischen Aufgaben fällt es in dieser Legislaturperiode zunehmend schwerer, sich mit der Umsetzung des Koalitionsvertrags bzw. mit Regierungserfolgen die Wählergunst zu sichern. Seit 2021 müssen wir auf stetig neue Lagen reagieren und die politischen Erfolge werden im selben Takt von neuen Krisenmeldungen überschattet. Dabei haben wir viel erreicht und sind als Sozialdemokratie unserem Auftrag als Verteidiger des Sozialstaats treu geblieben. Wir haben den Mindestlohn erhöht, nach Jahren endlich ein neues Einwanderungsrecht ermöglicht, Hartz IV reformiert und das Pflege- sowie Kindergeld sinnvoll erhöht.
Das sind große Errungenschaften, die erst mit dieser Regierungskonstellation möglich geworden sind. Außerdem saß in den letzten Wintern – wie zuvor von einigen politischen Gegnerinnen und Gegnern behauptet – niemand in kalten Wohnungen oder hatte keinen Strom mehr. Doch warum kommt dieser Erfolg nicht an?
„Streit in der Ampel“, „Druck auf Ampel wächst“, „Kommt das Ampel-Aus?“ Das sind die Überschriften, die wir seit einigen Monaten lesen. Es ist richtig, dass diese Regierungskonstellation nicht einfach ist und weite thematische Gräben überspringen muss. Das gilt insbesondere für die politische Distanz zwischen FDP und Grünen. Das war aber auch mit der Union schon so. Übrigens vergessen viele in diesen Tagen schnell, dass auch die Große Koalition de facto eine Dreier-Koalition gewesen ist, welche stets Rücksicht auf die Regionalpartei CSU nehmen musste. Eine tiefgreifende Reform des Wahlrechts war erst möglich, als die Union ihren Platz im Parlament auf den Bänken der Opposition einnehmen musste.
Doch die Krisen und Herausforderungen kommen geballt auf. Es ist eine herausfordernde Regierungskonstellation in besonders herausfordernden Zeiten der geopolitischen Krisen, wachsenden Unsicherheiten und ökonomischen Herausforderungen. Richtig ist aber auch, dass es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder schwierige Jahre für einstige Regierungen gab. Man denke beispielsweise an die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst im Jahr 1973, und den RAF-Terror während der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Gute parlamentarische Arbeit muss auch in herausfordernden Zeiten die Regel sein. Doch es ist immer wieder ein Balanceakt zwischen schneller Reaktion und guten Kompromissen, den wir bewältigen müssen. Denn, und das wird jede und jeder unterschreiben, der schon einmal einen Kompromiss ausgehandelt hat: Demokratie ist unbequem und stellt nie alle ganz zufrieden. Aber dass viele Ansichten in eine Entscheidung einfließen, ist gleichzeitig der große Vorteil der Demokratie, den wir uns bewahren müssen. Man selbst muss nicht immer Recht haben. Nach außen wirkt es aber oft zäh und träge und führt zu einem Vertrauensverlust, wenn Entscheidungen nicht mehr nachvollziehbar sind. Politik muss gerade in diesen Zeiten viel mehr erklären.
Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr denn je Optimismus und wollen eine klare und erkennbare Handschrift bei den Veränderungen und Umbrüchen erkennen. Das ist ein Moment, in dem jede und jeder von uns allein aus Hoffnung auf Besserung einfachen Antworten auf komplizierte Fragen eher Glauben schenkt. Diese vermeintlichen einfachen Antworten liefern derzeit Teile der Opposition, aber vor allem der rechte Rand des Parteienspektrums gewinnt damit Wählerinnen und Wähler.
Menschen verlieren das Vertrauen, weil sie das Gefühl haben, nichts gehe voran und sie seien die Verlierer des Stillstands. Einfache Antworten und Parolen können ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und Hoffnung geben. Doch der Schein trügt erheblich. So treiben diese Veränderungen Menschen auseinander und lassen sie in einer Unsicherheit zurück, die sich in der Parteienlandschaft niederschlägt. Die Gesellschaft bietet neuen Parteien mehr Raum, sich zu etablieren, und viele Menschen sind weniger gefestigt in ihren Meinungen und Überzeugungen. Da liegt es an uns, das Profil der Sozialdemokratie wieder zu schärfen und denjenigen ein Angebot zu unterbreiten, die sich im gesellschaftlichen Wandel verloren sehen. Wir müssen als Partei bei den Veränderungen mitgehen und klare Kante zeigen. Sonst steht einer mobilen Gesellschaft zunehmend eine immobile Politik gegenüber, die den Geist der Zeit nicht erkennt und in die daher kein Vertrauen fließen kann.
Wir stehen nicht nur als Sozialdemokratie, sondern als ganze Gesellschaft an einem entscheidenden Punkt. Rechte und/oder populistische Kräfte in diesem Land finden mehr Zuspruch, die Parteienlandschaft wird kleinteiliger und droht zunehmend zu zerfallen. Da darf es bei den Parteien der Mitte nicht immer nur um ein Gegeneinander und parteipolitische Interessen gehen, sondern mehr um die Sache und darum, dieses Land zusammen in Europa nach vorne zu bringen. Unsere Gesellschaft hat in den letzten Wochen auf der Straße und auf den verschiedensten Plattformen gezeigt, dass wir viele sind gegen rechts, gegen die Feinde unserer Demokratie. Das ist ein Potential an Menschen, das sich gesellschaftlich einbringen will und für sozialdemokratische Grundwerte wie Freiheit und Gerechtigkeit und Solidarität kämpft. Diese Schlagworte müssen wir mit Leben füllen und so unser Profil schärfen. Viele Menschen in diesem Land halten an den Werten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fest, lassen sich durch sie zusammenbringen und wollen ihnen Leben einhauchen.
Das kann nur gelingen, indem wir wieder näher an die Menschen heranrücken und Perspektiven bieten. Das fängt auf den untersten Ebenen unserer Partei an. Das ist der Ort, wo wir mit unseren Entscheidungen am stärksten ins Lauffeuer geraten; denn die Menschen an der Basis sind die, die sich auf der Straße dafür rechtfertigen müssen. Wir dürfen nicht nur in unserer eigenen „bubble“ bleiben, sondern Menschen, die unzufrieden sind oder sich aktiv einbringen wollen, in demokratische Parteien holen und mitwirken lassen. Wir leben in einer Staatsform, die davon lebt, dass sich jede und jeder engagieren, einbringen und dabei seine Meinung frei äußern kann. Jede und jeder muss daher in der SPD – in jedem Ortsverein, Stadtverband und Landesverband – niedrigschwellig die Möglichkeit bekommen, mitzuarbeiten und seine Meinung zu äußern, auch wenn das manchmal unangenehm sein kann. Parteiarbeit lebt von Vertrauen und Engagement und von den Menschen vor Ort, die die Demokratie erreichbar und erlebbar gestalten. Ich glaube, dass Beteiligung und Partizipation auf allen Ebenen der Schlüssel dazu sind, Menschen für Politik und unsere Ideen zu begeistern. Kurz und knapp: Sich kümmern um die Alltagssorgen der Bürgerinnen und Bürger.
Die Zeiten sind nicht einfach, aber in eine Sache vertraue ich voll und ganz: Die SPD kämpft sich seit über 160 Jahren durch Hochs und Tiefs und hat dabei immer wieder bewiesen, dass die Sozialdemokratie stark bleibt und noch lange nicht abgeschrieben werden sollte. Die Idee der sozialen Demokratie ist aktueller denn je. Wir waren und sind in diesem Land zudem immer das Bollwerk gegen rechts und haben uns auch nach Niederlagen wieder zusammengerauft, um neue Erfolge zu erzielen. Daher werden wir auch auf diese gesellschaftliche Lage reagieren und die richtigen Maßnahmen ergreifen. Mit uns zieht die neue Zeit. Wir werden gebraucht.